Staubfeuer (Band 3)
Dank der Mithilfe vieler Fans ist das Crowdfunding zu Staubfeuer ERFOLGREICH gewesen! Vielen Dank an alle, die mitgewirkt haben! Das Buch wird jetzt überarbeitet und demnächst veröffentlicht.
Hier schon mal ein kleiner Vorgeschmack: Werft einen ersten Blick ins Buch und verkürzt euch die Wartezeit, während ich die letzten Feinheiten abschließe. Schon bald könnt ihr das vollständige Werk in Händen halten – bleibt gespannt!
(Spoiler für Band 2)
Prolog – Verlust
»Ein Gott ward geboren. Ein dunkler, böser Gott. Ein Nachtbringer, wie man ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und mit ihm fiel die Nacht auf die Welt und die wahre Finsternis erwachte aus ihrem langen Schlaf.«
– Prudenbitor Hellandar Ebenkvest, in Die neue Nacht, abgefasst im Tintenwald der Grünen Stadt, über Elentis‘ Aufstieg in die Göttlichkeit
Der Kuss schmeckte bitter, als könne Areleas den Verrat darin kosten. Das sanfte Zucken ihrer Lippen, die Überraschung, die Art, wie ihr gedrillter Körper weicher wurde. Nereida vertraute ihm selbst jetzt noch – und er missbrauchte dieses Vertrauen.
Sein Bruder hätte Gehässigkeit empfunden im Angesicht einer Izal, die sich einem Gegner öffnete. Areleas sah darin Stärke, weil sie selbst nach einem Leben im Schatten nicht vollständig verlernt hatte, ein menschliches Wesen zu sein.
Als sie sich voneinander lösten und er die Arme, die sie um ihn geschlungen hatte, von seinem Nacken zog, fühlte er sich tausend Jahre älter und mit der Last der ganzen Welt auf seinen Schultern beladen. Doch wenn die Schuld schwerer wurde, wurde er nur noch stärker, um sie tragen zu können. Er hatte gelernt, alles zu ertragen.
»Lebe wohl«, flüsterte er und verließ sie. Denn dies würde das letzte Mal sein, dass er ihr gegenübertreten konnte. Bei ihrem nächsten Aufeinandertreffen würde sie ihn töten. Doch Nereida würde diese Schlacht überleben – und das war alles, was zählte. Nicht Areleas‘ Wünsche. Nicht ihre Traumwelt. Nur ihr Überleben.
Die Stufen unter seinen Füßen fühlten sich wackelig an, als er gefasst und schnellen Schrittes einen der lange verlassenen Gebetsräume ansteuerte. Areleas schaffte zehn Schritte, bevor er erkannte, dass es nicht an den Stufen, sondern am Zittern seiner Beine lag. Das Gift auf seinen Lippen begann zu wirken. Hastig wischte er die Überreste von seinen Lippen und überwand die übrigen Stufen bis zur Tür.
Er hatte in seiner Kindheit mit Aberas unzähliche Male im Haus des Segens verstecken gespielt. Sie beide kannten den Tempel besser als die Priester der Stummen Göttin. Die Tür schabte über den Boden und öffnete sich nur sperrig. Spinnenweben hingen tief von der Decke und eine Ratte lief quiekend davon. Nachdem Elrojana die Anbetung der Stummen Göttin gänzlich auf sich selbst umgelenkt hatte, waren nur noch die Haupträume des Tempels gepflegt worden. Sie hatte viele der alten Priester entlassen, die sich ihren Wünschen nicht unterordneten. Die neuen Priester, ihre Priester, kümmerten sich nicht um diese unwichtigen Nebenräume. Ihre Schlichtheit war Elrojana nicht würdig, denn sie brauchte Glanz, Gold und Pomp, um ihre Göttlichkeit vor allen Bürgern zu unterstreichen.
Elrojana war in dieser Hinsicht wie überall: Sie achtete auf die elementaren Teile und vollzog große Gesten, aber die Details ließ sie schnell außer Acht. Areleas erinnerte sich nicht mehr, ob sie früher anders gewesen war. Sie musste anders gewesen sein. Mit dieser Haltung hätte sie niemals jahrhundertelang dafür sorgen können, dass Vallen zu einem noch mächtigeren Reich anwuchs als es unter dem alten Königsgeschlecht bereits vor der Machtwende gewesen war. Der Tod ihres Seelengefährten hatte ihr so viel gekostet. Sogar ihre Gerissenheit.
Gut, dass sie sie vorher an Areleas vererbt hatte.
Die Tür fiel ins Schloss, als Areleas den Kampf gegen die Spinnweben aufgab und zu Boden sank.
Mit Fingern, die seinen Befehlen kaum Folge leisten wollten, zerrte er die Phiole mit dem Gegengift heraus. Es würde die Wirkung des Basimort neutralisieren, sodass Areleas bald wieder in der Lage sein würde, sich normal zu bewegen. Mit zusammengekniffenen Augen kippte Areleas das bittere Gebräu die Kehle hinunter, und wartete, dass es seine Wirkung entfaltete.
Wenn er in die Nähe eines feindlichen Kämpfers käme, hätte er keine Chance, denn sein Körper fühlte sich fremd an und jede Bewegung kam ihm vor, als würde jemand anders sie für ihn vollziehen – als würde sein Körper nicht ihm gehören. Also musste er warten.
Auf der gegenüberliegenden Wand waren verblasste Malereien um die Fenster gezogen, die Sonnenstrahlen nachahmten. Areleas hoffte, dass die Sonne bald heller über Launkher schien denn je, nachdem Elrojana gestürzt war. Falls Thalar Romane es schaffte.
Obwohl es unnötig war, machte er sich Sorgen um Nereida, die keinen Zugriff auf das Gegenmittel hatte. Gedanklich ermahnte er sich. Ihr Überlebenstrieb würde über ihre Sturheit gewinnen. Sie war eine Überlebende. Anders hätte sie die Jahrzehnte in Finsternis, die sie in den Frostreichen erdulden musste, nicht überstanden. Als Izal kannte Nereida sich mit Giften aus. Sie würde bei den ersten Anzeichen von unnatürlicher Schwäche verstehen, was Areleas getan hatte, und sich zurückziehen. Tot war sie Elrojana nicht von Nutzen.
Trauer überkam Areleas bei dem Gedanken, dass die Tatsache, Elrojana tot nicht helfen zu können, vielleicht mittlerweile das Einzige war, was Nereida davon abhalten würde, sich blind in den Tod zu stürzen, um ihre Befehle zu befolgen.
Von draußen hörte er Schlachtenlärm. Ein Kampf, der mit etwas Glück eine neue Ära heraufbeschwören würde. Das Zeitalter nach Elrojana, nach einer Unsterblichen. Areleas betete dafür. Dort draußen standen Avolkerosi Seite an Seite mit valaharischen Rebellen gegen die kobaltblauen Ungetüme, die der Königin loyal waren. Sie kämpften und starben für eine bessere Zukunft, so wie Areleas es auf seine Art hier drin getan hatte. Vielleicht würde es den beiden Fraktionen sogar helfen, sich einander anzunähern, und die Götter wussten, dass die Avolkerosi einen besseren Stand in der Gesellschaft bitter nötig hatten.
Hier, sicher im Gebetsraum versteckt, harrte er aus.
Areleas hatte noch nicht lange gewartet, als etwas ihn dazu bewegte, seinen sicheren Rückzugsort zu verlassen: Mit einem Mal wurde es dunkel um ihn herum, ohne ersichtlichen Grund. Es sollte hellichter Tag sein und diese Finsternis war anders als die Nacht. Die plötzliche allumfassende Dunkelheit, die die Welt einnahm, machte ihn blind.
Mit zitternder Stimme flüsterte er dem Nevaret in seinem Ring zu, und es tauchte einen kleinen Radius um ihn herum in kühles Licht, aber selbst das Nevaret hatte Schwierigkeiten, gegen das Dunkel zu bestehen. Areleas hatte nichts gesehen, was es erklären konnte, aber hier drinnen bekam er von den Geschehnissen draußen auch nichts mit. Es mochte leichtsinnig und gegen sein übliches Vorgehen sein, aber er konnte nicht in seinem Versteck bleiben und warten, während ihre Welt unterging. Denn etwas anderes konnte diese Finsternis nicht bedeuten.
Sie mussten verloren haben.
Er musste erfahren, was vor sich ging. Areleas fand Frieden in Wissen und war es nicht gewöhnt, von allen Informationsquellen abgeschnitten und auf sich allein gestellt zu sein. Einzig vom schwachen Schein des Nevarets geführt, schlurfte er zur Tür und hinaus in Richtung des kleinen Treppenhauses für niedere Diener, das genauso verwaist wie die Nebenräume war. Stockwerk für Stockwerk wurden seine Bewegungen wieder geschmeidiger und auch wenn er sich nicht bereit für einen Kampf fühlte, konnte er sich wieder normal bewegen.
Der Kampfeslärm wurde zunehmend lauter. Die Schreie hallten in Areleas‘ Ohren wider und er wappnete sich, das Schlachtfeld zu betreten. Das große Tor nach draußen stand offen. In der Finsternis erfühlte er es mehr, als er es sah. Vergebens suchte er nach einem helleren Punkt, nach dunkleren Stellen, die sich vor dem Firmament abzeichneten, aber alles außerhalb seiner kleinen blauen Lichtkugel blieb undurchdringlich dunkel.
Bis plötzlich ein heller Lichtpunkt erblühte. Gebannt sah Areleas zu, wie das Licht in Sekundenschnelle von der umliegenden Dunkelheit verschluckt wurde. Aber ein weiteres Licht erschien, und dann noch eines.
Sonnenglimmer.
Auch wenn die Dunkelheit nichts gutes verhieß, war Areleas dankbar für die Lichtblicke. Er hatte sie ermöglicht. Er und der Lampenmacher.
Areleas hatte trotz aller Waghalsigkeit nicht vor, sich direkt auf das Schlachtfeld zu begeben, auf dem Wesen kämpften, die vielleicht sogar in dieser Dunkelheit sehen konnten. Er tastete sich an der Wand entlang bis zu einem kleinen Nebenausgang des Tempels, der in eine Gasse führte. Sie war leer.
Es glich der Ruhe vor dem Sturm.
Areleas zog sein Schwert, auch wenn er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, sich ohne Blutvergießen seinen Weg durch die Stadt zu bahnen. Tatsächlich bildete er sich ein, dass die Schatten weniger dicht wurden, aber vielleicht war das nur ein Nebeneffekt von den Sonnenglimmern, die immer wieder auf der anderen Seite des Tempels erblühten. Es gefiel ihm überhaupt nicht, dass er keinen Überblick über die Lage hatte.
Ein Aussichtspunkt war Vonnöten. Das Haus des Segens war von Elrojana besetzt, also würde Areleas sich zu dem nächstbesten nahegelegenen Turm begeben: dem Glockenturm.
Er war noch nicht kräftig genug, um in der Hitze des Gefechts mitzumischen. Zudem war es verrückt, ohne Sinn und Verstand zu kämpfen, wenn er gar nicht wusste, wie es um sie stand. War Romane besiegt? Hatten sie verloren? Die Finsternis um ihn herum sprach davon, und Areleas‘ Herz sank. Doch noch gab er nicht auf, nicht solange er nicht wusste, was los war.
Er hielt sich an den Rändern der Gasse, sein Licht abgedimmt und auf den Boden gerichtet. Besser, er zog nicht mehr Aufmerksamkeit auf sich als absolut nötig. Hin und wieder erhellte ein Licht die Dunkelheit, doch nie für lange, dann verschluckte die unnatürliche Finsternis es wieder.
Areleas entfernte sich von der unmittelbaren Umgebung der Schlacht. Obwohl die Schreie und das Klirren von Schwertern weiterhin ohrenbetäubend waren, konnte er mittlerweile andere Geräusche ausmachen. Leisere. Flüstern und Wimmern. Aus einem Fenster, an dem er vorbeiging, schauten ihn zwei Augen an, bevor sich die Person duckte. Die Untertanen in der Hauptstadt wussten nicht, was über sie gekommen war. Für sie kam alles so plötzlich. Selbst Areleas hatte diese Geschehnisse nicht vorhergesehen, wie musste sich dann ein einfacher Händler mit seiner Familie fühlen?
Er trieb sich voran. Mit jedem Schritt verklang die Wirkung des Giftes mehr, und Areleas wurde schneller. Der Schatten, zu dem der Glockenturm in dieser Finsternis geworden war, erhob sich drohend über den kleinen Platz.
Areleas ging, um die Tür vorsichtig zu öffnen, als ihn ohne Vorwarnung eine Welle der Schuld und Hoffnungslosigkeit überkam, die ihn keuchend in die Knie zwang. Alles war aussichtslos. Ihr Krieg eine verlorene Sache. Es war töricht, auch nur zu hoffen, dass es eine bessere Zukunft gäbe, wenn sie kämpften. Wegen Areleas starben gerade hunderte Avolkerosi, weil er ihnen falsche Hoffnung gemacht hatte.
Er konnte nicht atmen.
Doch so schnell wie die Welle ihn erfasst und mitgerissen hatte, rollte sie auch über ihn hinweg und ließ ihn zitternd zurück.
Was in Diluzes’ Namen war das?
Es kostete ihn noch einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte. Hastig sah er sich um, wollte eine Quelle dieser unerklärlichen Empfindungen finden, aber um ihn herum war alles dunkel und er konnte nichts ausmachen. Das Tor des Glockenturms stand sperrangelweit offen. Wenn sich hier jemand versteckt hätte, wäre die Tür verbarrikadiert. Areleas betrat achtsam den Turm. Ein kurzer Blick auf die Tore zeigte keine Beschädigungen, was ein gewaltsames Eindringen ebenfalls ausschloss. Auch auf dem Weg hierher hatte Areleas keine Anzeichen eines Kampfes gesehen, höchstens ein paar umgestoßene Karren und liegen gelassene Gegenstände, die wohl von flüchtenden Untertanen stammten. Anscheinend begrenzte sich die Schlacht um den Bereich des Adalsplatzes und des Palastes.
Das beruhigte ihn. Das einfache Volk hatte hiermit nichts zu schaffen – und gegen königliche Soldaten, Rebellen und Monster standen ihre Chancen schlecht.
Das gespenstische Knarzen von altem Holz verfolgte Areleas beim Aufstieg der hohen Treppenflucht. Hatte jemand die Glocken geläutet, um die ganze Stadt zu warnen? Nein, Areleas hatte keine Glocken gehört.
Seine Waden brannten nach der Hälfte der Stufen, und Areleas wurde langsamer. Er mochte sich wieder bewegen können, doch sein Körper war immer noch geschwächt. Kurz wanderten seine Gedanken erneut zu Nereida Letonai. Wie mochte es ihr ergehen? Hatte sie es rechtzeitig aus der Schlacht geschafft und war an einem sicheren Ort, um das Wüten des Giftes auszuharren?
Er nahm die nächste Stufe. Nereida war eine Kämpferin, natürlich hatte sie das. Diese Gedanken und die damit verbundene Unsicherheit waren fehl am Platz. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Gleich würde er sehen, wie es um sie stand. Draußen erhellten in kurzer Abfolge Lichter vom Sonnenglimmer die Dunkelheit, beinahe wie Blitze in einem Gewitter. Sie würden ausreichen, um ihm einen Überblick zu ermöglichen.
Je weiter Areleas nach oben stieg, desto heftiger knarzte und knirschte die hölzerne Stützkonstruktion des Turmes. Über den Dächern der normalen Gebäude herrschte anscheinend ein Sturm. Neben der Glocke ans Geländer gelehnt, stand eine Gestalt. Sie zeichnete sich schwach gegen den Himmel ab. Ein weiterer Beweis dafür, dass die Finsternis zumindest ein wenig abgenommen hatte. Areleas flüsterte und das Licht im Nevaret erlosch, sodass er unentdeckt blieb. Dunkelheit umhüllte ihn und mit ihr schwoll ein beklemmendes Gefühl in seiner Brust an.
Nur wenn ein weiterer Lichtblitz das Dunkel durchbrach, hatte er das Gefühl, atmen zu können. Diese Finsternis hatte einen eigenen Willen – oder war dem Willen eines anderen unterworfen. Sie lebte auf eine einzigartige Weise, die Areleas nicht fassen konnte. Es war, als berührten ihn tausende scheue Fühler, betasteten ihn, schmeckten ihn, und bewerteten, was die Dunkelheit von ihm halten sollte.
Mit einem Mal drehte sich die Gestalt am Geländer um, obwohl Areleas sich leise genähert hatte. Er war nur noch einige Stufen von ihr entfernt, und beim nächsten Erblühen des Sonnenglimmers erkannte Areleas das Gesicht.
Es war sein eigenes.
Sein Zwilling Aberas schaute ihn direkt an. Selbst als das Licht verschluckt wurde, und erneut die Schatten dominierten, kam es Areleas so vor, als würde sein Bruder seinen Bewegungen folgen können. Die Beklemmung hatte nachgelassen, und Areleas konnte wieder atmen. Er festigte den Griff um sein Schwert, doch schließlich steckte er es weg. Heute würde zwischen ihnen kein Kampf entbrennen. Er war zu geschwächt, um gegen Aberas zu bestehen.
Stattdessen stellte er sich neben seinen Zwillingsbruder und schaute über die Stadt. Auf dem Haus des Segens fand eine ganz eigene Schlacht statt. Areleas sah sie selbst in der Dunkelheit, da Elrojana wie eine von Göttern Gesandte leuchtete. Gegen wen sie kämpfte, konnte er jedoch nicht erkennen. Sicherlich ein Gewirrspinner. Romane? War es noch nicht vorbei?
»Wieso bist du nicht dort und hilfst deiner Königin?«, fragte er seinen Bruder. »Du bist doch ihr dunkler Streiter.«
Aberas gluckste.
»Nicht ihrer«, sagte er so leise, dass Areleas es fast nicht über den Sturm gehört hätte. Lauter fuhr er fort: »Meinst du nicht unsere Königin? Ach, lass uns für einen Moment hinter die Masken des jeweils anderen schauen, Bruder. Ich bin in Feierstimmung.«
»Ich sehe wenig Grund zur Freude.«
»Weil du blind bist. Blind für wahre Macht und … sogar wörtlich in dieser Dunkelheit.«
Areleas fühlte sich unwohl, ob der vielen Aspekte dieser Schlacht, die er nicht verstand. Er hatte zu viel davon nicht beobachten können. Aber er hatte sein Versprechen der Rebellion gegenüber halten und sich um Nereida kümmern müssen. Wer hatte die Finsternis gebracht? Wie standen ihre Chancen auf einen Sieg? Er spähte zu Aberas hinüber. Wieso fühlte sein Bruder sich so wohl, während um sie herum die Welt unterging?
»Wer gewinnt?«, fragte er stattdessen und fühlte sich zurück in ihre Kindheit versetzt, als Aberas sein Tor zur Außenwelt gewesen war. Als er seinem Zwilling alles geglaubt hatte, was er ihm erzählte.
Im Licht des Sonnenglimmers sah er seinen Bruder lächeln. »Das spielt keine Rolle.«
»Thalar Romane kann die Königin schlagen.«
Aberas zuckte mit der Schulter. »Falls mein Herr es ihm erlaubt, sie zu töten.«
»Dein Herr?«, wiederholte Areleas, fing sich aber schnell wieder. Dass Aberas Elrojanas Seite verlassen hatte, ließ bereits Zweifel an seiner bisher unbestreitbaren Loylität zu. Diese Aussage machte die Zweifel zu einer Gewissheit. Areleas wusste nicht, ob es ihn wirklich überraschte oder ob er es innerlich erwartet hatte, dass Elrojanas Einfluss ihn schlussendlich treulos machen würde.
»Du dienst also jemand anderem als Elrojana. Wem?«
Das Lachen seines Bruders kam unerwartet in der Dunkelheit. Hier neben ihm zu stehen, während er ihm ausgeliefert war, weckte alte Ängste in Areleas, ebenso wie Erinnerungen an eine Zeit, in der sie einander noch vertraut hatten.
Stürmische Böen zerrten an Areleas‘ Kleidern. Auf dem Dach des Tempels wurde die Realität gekrümmt, und das schlug Wellen. In dieser Höhe fühlte sich die Luft dick und unnachgiebig an, und die Winde glichen Peitschenhieben. Areleas spürte erneut Gefühle von Verlust und Reue in seinen Verstand sickern. Wieso fühlte er sich so schuldig?
»Ah, da ist er wieder«, sagte Aberas mit rauer Stimme. »Anscheinend will er sich den Höhepunkt seiner zweiten Geburt nicht entgehen lassen.«
Areleas verstand nicht, wovon sein Bruder redete, bis er erneut auf das Tempeldach schaute. Dort, über dem Haus des Segens schwebte eine Gestalt, die Areleas überhaupt nicht erkennen dürfte. Sie war genauso dunkel wie die Welt um sie herum, ihre Silhouette sollte sich nicht abheben, aber aus irgendeinem Grund sah Areleas sie genau vor seinen Augen. Er erkannte Details, für die er viel näher sein müsste. Wie auf einem Thron aus Schatten saß das Wesen über seiner ganz persönlichen Arena. Es hatte harte Gesichtszüge, die Augen brannten purpurrot und die finstere Haut war überzogen von leuchtenden Symbolen. Gilvendalisch, kam es ihm in den Sinn. Er konnte ein paar davon lesen, zugegebenermaßen fiel es ihm schwer, doch es sollte absolut unmöglich sein. Das Licht, das Elrojana zum Strahlen gebracht hatte, wurde von der Dunkelheit um das Wesen herum aufgesogen.
»Dein Gesichtsausdruck ist Gold wert«, riss Aberas ihn aus der Betrachtung. »Noch nie einen Gott gesehen?«
Einen Gott? Areleas erkannte das, was dort über dem Tempel thronte, erst jetzt als Nachtbringer. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, weil Götter nicht in Erscheinung traten – zumindest waren diese Begebenheiten so selten, dass sie an Legenden grenzten. Aber dort, auf dem Tempeldach, befand sich eine wahrhaftige Gottheit.
Mit dieser Erkenntnis brach die ganze Macht der Gottheit über ihn herein. Keuchend sank Areleas auf die Knie. Der Druck, der die Luft verdichtete, hatte eine unerträgliche Stärke angenommen, und die Last auf seinen Schultern drückte ihn zu Boden. Areleas sah hilfesuchend zu seinem Bruder, der auf ihn herablächelte und völlig unbeeinträchtigt von der Last zu sein schien. Hatte sie keine Auswirkung auf ihn? Wie konnte er sie nicht auch spüren und darunter zermalmt werden?
Ein Gott!
Areleas‘ Atem ging panisch. Welcher der Nachtbringer war es? Milite, das alte Übel? Pleonim, der dunkle Frost? … Subret? Nein, keiner von ihnen wurde so in den Schriften beschrieben. Areleas wusste es nicht. Es raubte ihm das letzte bisschen Atem, nicht zu wissen, mit wem er es zu tun hatte.
»Das ist Elentis«, sagte Aberas über ihm und schaffte es, gleichzeitig genervt von Areleas‘ Unwissenheit und ehrfürchtig seinem Gott gegenüber zu wirken. »Der Unvergängliche.«
Tausend Gedanken durchdrangen Areleas‘ Verstand. Informationen über einen uralten Gott der Zeit und des Zufalls, nach dem Elrojana gesucht hatte. Die Legenden darüber, dass diese Gottheit in der Lage gewesen war, Unsterblichkeit zu verschenken. Die Erinnerung an Nereida in diesem feuchten Keller, wie sie Areleas nicht glauben wollte, dass ein Bund mit diesem Gott nur Unheil über Vallen brächte. Elrojana hatte es also tatsächlich wieder getan: Sie war einen Pakt mit einer Gottheit eingegangen. Nur dieses Mal war sie keine liebende Tagbringerin, sondern ein Gott der Finsternis.
»Was tut er hier?«, brachte Areleas keuchend heraus.
»Er feiert«, sein Bruder legte so viel Festlichkeit in seine Stimme wie er es noch nie von ihm gehört hatte. Das musste eine wahrhaft große Bedeutung haben. Areleas schaffte es nicht unter dem Druck, der die Luft zu Blei machte, etwas zu erwidern.
»Die eigene Geburt ist ein Grund zum Feiern, Bruder. Genauso wie die Geburt der Dunkelheit in dieser Welt. Er ist der Erste und Einzige, der sie beherrschen kann. Das Zeitalter der Tagbringer und der Sonne ist vorüber.«
Fast war Areleas bereit, das zu glauben. Das angehäufte Leid brach auf ihn hernieder, als hätte jemand alles Leid der Welt gesammelt. Es presste seinen Brustkorb zusammen und seine Schultern gen Boden. Er konnte kaum atmen, als Schuldgefühle, Reue und die alles aushöhlende Leere von Verlust ihn überschwemmten.
Hilfesuchend streckte er seine Hand nach seinem Bruder aus. Aberas trat einen Schritt zurück und nahm den Blick von Elentis, dem Unvergänglichen, um auf Areleas herabzusehen. »Dieses Reich, der ganze Kontinent gehört nicht länger den Königen. Eresgal wird erzittern, jetzt, wo sein neuer Herr erwacht ist. Ganz Ranulith wird seine Macht zu spüren bekommen.«
Aberas wandte sich um und beschritt den Weg den Turm hinab.
»Wohin …«, presste Areleas heraus.
»Es gibt viel zu tun … Orte und Völker einzunehmen. Lebe wohl, liebster Bruder.«
Areleas blieb zurück, unfähig, stark genug zu sein, um die Last der göttlichen Macht zu ertragen.
Kapitel 1
Die neue Nacht lag über den Dächern Lanukhers. Mit der auch am Tag anhaltenden Dunkelheit war die Kälte gekommen. Der blaue Schein der Nevaretlaternen aus den gehobenen Gegenden trug dazu bei, dass Isra die Kälte durch die dünnen Kleider wahrnahm.
Sie starrte auf ihre Hände, klein, schmal, aber doch so groß wie die jener jüngsten Kinder in Nilas Bande, die bereits zehn Jahre alt waren. Zu jung, um bei Aufträgen und Diebstählen mitzumischen, hatten sich die Kinder um das Sauberhalten der Verstecke und Schlupfwinkel von Nilas Bande gekümmert und waren nie von Außenstehenden gesehen worden, was Nila den Ruf eingebracht hatte, keine Neulinge aufzunehmen. Dabei war selbst die geschickteste Diebin Lanukhers nicht gefeit davon, Mitgefühl zu empfinden und jungen Leben eine Chance zu geben, statt sie auf der Straße verhungern zu lassen. Sie hatte ein gutes Herz, auch wenn sie es nur Kindern gegenüber zeigte.
Auch Isra hatte sie es gezeigt. Sie war eine von ihnen gewesen und hatte sich durch ihre einzigartigen Fähigkeiten trotz ihres jungen Alters nützlich erweisen können. Zumindest bis die Kobaltkrieger Ihrer Majestät angefangen hatten, jeden einzelnen Schlupfwinkel der Diebesbande auseinanderzunehmen, auf der Suche nach Isra.
Sie erinnerte sich an Nilas eindringlichen Blick, als sie sie fortgeschickt hatte. »Ich will jemanden wie dich nur ungern verlieren«, hatte sie gesagt, und ihre Hand auf Isras Schulter gelegt, so wie Khalikara es oft getan hatte. »Aber du bringst Gefahr in mein Haus und ich muss die Meinen schützen.«
Isra verstand es. Jeder, der ihr helfen wollte, starb. Nila sollte nicht dasselbe Schicksal ereilen.
Sie hob den Blick und starrte in die trüben Augen der Izal, die sie in Khalikaras Auftrag holen wollte, um ihr ein besseres Leben zu bieten. Aufgereiht mit anderen Palastwachen und wichtigen Adeligen vom alten Königshof steckte ihr Kopf auf einem Eisenstab auf der Mauer zur Nevarettribüne. Das Nevaret strahlte sie von hinten mit blassem Licht an, während sich in ihren Augen der Fackelschein spiegelte und sie Isra voller Spott ein lebendiges Flackern vorspielten.
Jeder, der unten vorbeiging und den Kopf gesenkt hielt, konnte die Zurschaustellung der Macht des neuen Königs ausblenden. Vielleicht senkten deshalb sogar Adelige ihre Köpfe. Aber Isra hatte sie schnell entdeckt, weil sie die Welt um sich herum noch stärker wahrnahm als jene, die schon viele Jahre darin lebten.
Isra zog die Beine enger an den Körper und ihre Füße fanden Halt auf den Schindeln. Sie atmete mit geöffnetem Mund und schmeckte das fade Aroma dieser neuen Nacht. Wie eine Staubschicht legte sie sich auf ihre Zunge und verbreitete den bitteren Geschmack von abgestandenem Wasser. Sie überlagerte alle feineren Nuancen, die Isra früher mit Leichtigkeit wahrgenommen hatte. Doch selbst ohne dieses feine Gespür wusste sie, dass das schwarze Leuchtfeuer, der herbe Geschmack von Finsternis, der sie nach Launkher getrieben hatte, fort war.
Auch die Kobaltkrieger, die nach Schatten geschmeckt hatten, waren Vergangenheit. Dieser Ort hielt nicht mehr viel für sie bereit, und doch blieb sie, weil sie keine andere Heimat hatte.
Der hölzerne Fensterladen neben ihr ging mit einem Knarzen auf und Kellandars chaotischer Haarschopf kam zum Vorschein.
»Echt jetz, Isra?«, sagte der Junge mit einem Stöhnen. »Stehst du auf Gefahr? Jedes Mal, wenn ich dich such, find ich dich hier.«
Isra sagte nichts. Der Junge stieg flink aus dem Fenster und setzte sich neben sie. »Seit zwei Tagen glotzt du in tote Gesichter. Kennst du etwa jemanden davon?«
Sie könnte es ihm erzählen, aber eigentlich irritierte es sie zu sehr, dass er die rothaarige Frau nicht wiedererkannte. Er hatte mit ihr gesprochen und sie minutenlang angeschaut. Trotzdem bemerkte er nicht, dass ihr Gesicht nur einige Meter vor ihnen auf einem Eisenstab steckte.
»Du bist unaufmerksam«, sagte sie schließlich.
»Hm? Was soll das denn heiß’n? Immerhin weiß ich, dass wir Probleme bekommen, wenn uns jemand hier findet. Aber du hast anscheinend einen Todeswunsch. Sonst würdest du nicht ständig wieder herkommen. Wir sin’ in Nilas Gebiet und dich kümmert das gar nicht.«
Nila. Die Koblatkrieger waren fort. Sie könnte zurück zu Nila und ihr erklären, dass keine Gefahr mehr von Isras Nähe ausging. Ihr Blick fiel auf Kellandar. Dafür müsste sie ihn wieder allein zurücklassen, und das wollte sie nicht. Außerdem zog sie auch ohne Kobaltkrieger Gefahr an, weil sie anders war.
»Sei nicht so miesepetrig, ich hab auch was für dich.« Sie kramte in ihrer Hosentasche und hob ein paar goldener Ohrringe vor sein Gesicht.
»Och, sag bitte nicht, du hast sie in Nilas Gebiet geklaut!«
»Natürlich nicht, ich bin ja nicht dumm.« Sie warf ihm die Ohrringe in den Schoß. »Verkauf sie oder pack sie zu den übrigen, wie du willst.«
Kellandar betrachtete die Ohrringe mit einem zahnlückigen Lächeln im Feuerschein. »Nila muss echt heulen, dass sie dich hergegeb’n hat. Du bist besser als sie.«
»Bin ich nicht. Sie hat viel mehr Erfahrung.« Und sie tut es mit Leidenschaft, ich nur mit Hilfe.
Eine Gruppe Männer blieb vor dem Haus stehen, die Köpfe zu den gepfählten Opfern des neuen Königs erhoben. Einer von ihnen hatte silberweißes Haar, der Rest waren Avolkerosi. Wie ungewöhnlich.
Der Junge schüttelte den Kopf und steckte den Schmuck ein, ehe er aufstand und zum Fenster zurückkletterte. »Komm jetz, bevor uns jemand sieht.«
Isras Hände waren klamm vor Kälte, als sie sich mit einem letzten Blick von den Männern abwandte und dem Jungen folgte.
Sie hatten ihr Versteck im Hafenviertel, nicht weit vom Pier entfernt. Kellandar hatte den Verschlag selbst gebaut und Isra im Austausch gegen regelmäßige Beute einen Platz darin freigeräumt. Er war gut darin, alles zu Geld zu machen, und nahm Isra somit die unangenehmen Gespräche ab. Es war eine lukrative Zusammenarbeit für beide.
Jedoch führte ihr Weg sie nicht zum Hafen. Der Junge schlenderte den inneren Ring entlang bis zu einem der Tore, die sie in die Nevarettribüne brächten.
Isra wurde unruhig. »Was wollen wir hier?«
Sie flüsterte, um die Wache am Tor nicht zu alarmieren.
»Ich hab noch was zu tun und ich will, dass du mitkommst. Is’ keine so tolle Gegend seit der Nachtwerdung, hab ich gehört.«
Die Wache gähnte gelangweilt und stützte sich auf ihre Hellebarde. Sie war müde, immerhin war es mitten in der Nacht. Ob es noch lange zum Wachwechsel war? Kellandar passte den Moment ab, in dem die Wache erneut herzhaft gähnte und die Augen schloss, um sich durchs Tor zu schleichen. Isra folgte ihm leise.
Nachdem sie in eine Gasse abgebogen und außer Hörweite waren, fragte Isra erneut: »Und wohin gehen wir jetzt?«
»Du bist noch nich lang in der Hauptstadt, oder?«
Isra schüttelte den Kopf.
»Keine Ahnung, ob du’s dann kennst. Ist ‘n übler Ort. Schon immer gewesen, aber für unsereins ist es nich’ viel schlimmer als unsere Viertel hier, bloß dunkler. Sollte dir also nix ausmachen. Ist ein guter Ort, um ‘n paar Dinger zu drehn, wenn man die richtigen Leute kennt. Bloß vorsichtig muss man sein.«
Das war eine der Sachen, in denen der Junge Isra weit voraus war: Er kannte Leute. Isra mied andere meistens.
»Und wo ist das jetzt?«
Kellandar deutete mit dem Zeigefinger zum Boden. »Unter uns.«
Die breiten Straßen waren wie leergefegt. Überall dasselbe seit zwei Tagen. Die Nachtwerdung machte den Valahari Angst und die Adeligen und Reichen blieben alle zuhause. Keiner traute sich raus, nicht einmal der Markt wurde beschickt. Ein jeder dachte, die Welt gehe unter. Isra und Kellandar huschten an hell erleuchteten Fenstern vorbei: Kerzen umringten Diluzesstatuen, in deren gefalteten Händen kleine Schälchen mit Nevaret gefüllt waren. Wie kleine Schreine kamen sie Isra vor. In der allumfassenden Dunkelheit, die abseits der Fenster und vereinzelten Nevaretlaternen herrschte, bildeten sie Lichtpunkte der Hoffnung fürs Volk. Abgesehen von ihnen waren jetzt überall Schatten, die Isra ein Gefühl der Sicherheit vermittelten, obwohl nicht alle ihre Schatten waren.
Kellandar führte sie quer durch das Viertel, vorbei an Läden, an deren Auslagen Isra sich gern sattgesehen hätte, aber der Junge hielt nicht an, und so begnügte sie sich mit einigen hastigen Blicken auf Bluthandwerk und Gewirrwerk. Sie hatte Gerüchte gehört, von Schutzgegenständen und wundersamen Dingen, die wie aus einem Mythos klangen.
Artig hinter dem Jungen hergehend schenkte Isra ihrer Route wenig Beachtung. Erst als sie dem ewigweißen Monolith gegenüberstand, blieb Isra wie vom Donner gerührt stehen. Einem blassen Dorn gleich ragte das Haus des Segens gen Himmel und an seiner Spitze leuchtete fahlrot hinter der Finsternis und Wolkenschicht die eingesperrte Sonne, was wohl niemand außer ihr sah. Wie ein glühender Feuerball hinter einem engmaschigen Stück Stoff, der die neue Nacht zu zerreissen drohte. Doch die Maschen des Stoffs entpuppten sich als aus Eisen geschmiedet und hielten das brennende Licht fern. Dafür war Isra der Nachtwerdung dankbar. Obwohl sie die anwachsende Kälte nicht mochte, verursachten die Strahlen der Sonne ein Unwohlsein in ihrem Innersten, das sie kaum zu deuten verstand.
Etwas flog vor dem Tor der Gunst vorbei, ein Vogel. Sein Schatten wandelte sich jedoch vor Isras Augen in einen größeren, einen Schatten, der nicht flog, sondern fiel. Es war, als höre sie erneut, wie eine ganze Stadt den Atem anhielt, gespannt darauf wartend, ob sie den Tod eines Schuldigen oder die Rettung eines Unschuldigen feiern würden. Sie spürte die Hitze der Sonne wie einen Phantomschmerz auf ihrer Haut, das Drücken und Drängen dutzender Körper, sie schmeckte den Staub auf ihrer Zunge und drohte erneut an dem Schrei zu ersticken, der in ihrer Kehle gefangen war.
Er löste sich bei einer groben Berührung an ihrem Arm, die so viel realer wirkte als ihre anderen Empfindungen.
»Schhh! Bist du verrückt! Was brüllst du hier rum?«
Isra blinzelte, der fallende Schatten des Mannes, die glühende Hitze der Sonne und die hunderten Körper um sie herum verblassten, bevor Khalikara auf dem Boden auftraf. Sie war dankbar dafür.
Kellandar stand mit einer abgedeckten Öllampe vor ihr.
»Entschuldige.«
»Komm jetz.«
Ihr Herz flatterte wie ein gefangener Vogel und nur langsam konnte sie sich wieder in Bewegung setzen und dem Jungen durch den Türspalt ins Haus des Segens nachsetzen.
Der Boden im großen Saal hinter dem Tor war aufgesprengt. Große Trümmer lagen um ein schwarzes Loch verstreut, das in die Tiefe führte.
»Wieso brauchst du mich dafür?«, fragte Isra und stieg über Steintrümmer.
Kellandar bewegte sich eilig durch das Chaos und verschwand im Loch. Er winkte ihr nur noch kurz mit der ausgestreckten Hand aus dem Loch zu, sie solle endlich kommen, und schon bewegte sich der Schein seiner Lampe weiter weg.
»Wieso muss ich mit?«, rief Isra ihm hinterher und folgte ihm hastig.
Sie landeten auf Steintreppen, die so alt und ausgetreten wirkten als wären sie tausende Jahre alt.
»Weil du viel weiter und besser siehst als ich«, zischte der Junge. »Is mir lieber, dich dabei zu haben, wenn ich schon die Gelegenheit dazu hab. Musst auch sonst nichts tun, bloß aufpassen.«
Isra mochte es nicht, wenn er sie so unangekündigt irgendwo mit reinzog. Aber sie hatte nicht vergessen, dass er sie wieder und wieder vor den Kobaltkriegern gewarnt und gedeckt hatte. Kellandar hatte ein ganzes Netz aus Leuten, die ihm Dinge erzählten. Er war zwar jung, aber er wusste verdammt viel übers Überleben und kannte an jeder Ecke irgendjemanden. Missmutig stapfte sie hinter ihm her und rieb sich mit den Händen über die Oberarme, um die anschwellende Kälte des Orts zu vertreiben.
Hier unten war die Dunkelheit anders als die neue Nacht an der Oberfläche. Obwohl auch jetzt dieser bittere Geschmack auf Isras Zunge lag, erkannte sie, was er überlagerte: einen süßlich-dicken Dunst. Je tiefer sie hinabstiegen, desto präsenter und drängender wurde er. Schattenschwaden umschmeichelten sie, Isra hörte ihre zärtlichen Stimmen, wie sie auf sie einredeten. Am liebsten hätte sie geantwortet.
Sie hatte schon oft versucht, nach Trumukbur zu gelangen, aber die Kobaltkrieger hatten sich in letzter Zeit so zahlreich hier herumgetrieben, dass Isra sich nicht nähern konnte, ohne Gefahr zu laufen, entdeckt zu werden. Aber jetzt waren sie weg.
Der Junge sagte etwas, und Isra hörte ihn kaum durch das Schnattern der Schatten, die sie abschirmten, liebkosten und sanft an ihr zerrten, als wollten sie ihr etwas zeigen. Allmählich gelang es ihr, seine Stimme zu verstehen. Ihre Freunde blieben zurück, wollten auch sie zurückhalten, als Isra Kellandar weiter folgte und vor sich eine verwüstete Unterstadt mit vereinzelten Nevaretlampen und Fackeln erkannte. Der Junge war an ihrer Seite, kauerte sich hinter ein Trümmerteil und hatte sein Licht ganz nach unten gedreht.
»Hier sieht alles irgendwie anders aus«, raunte er. »Da, schau mal, die ganzen Leute. Die sehen aus, als würden sie sich vom Acker machen.«
Tatsächlich eilten bepackte, blasshäutige Valahari die erleuchtete Straße entlang und wandten ihre Köpfe in alle Richtungen, als wüssten sie nicht, von welcher Seite die Gefahr drohte.
»Ich hab auch irgendwie ‘n komisches Gefühl im Bauch«, flüsterte Kellandar. »Fühlt sich an, als würde mich jemand anstarren. Is’ hier irgendwer?«
Isra sah sich suchend um. Sie konnte niemanden entdecken, der sie beobachtete – und sie sah selbst in der Dunkelheit ausgezeichnet. Kellandar rieb sich den Nacken, als sie ihm das sagte. »Ist, als würde jemand ‘ne kalte Hand in meinen Nacken legen.«
»Die Häuser«, sagte Isra. »Sie stehen leer.«
»Unmöglich, Trumukbur ist genauso vollgepackt mit Valahari wie Lanukher.«
»Irgendwas muss die Leute von hier vertreiben. Sie nehmen ihr ganzes Hab und Gut mit und verschwinden.«
Kellandar neben ihr brummte. Er wirkte angespannt. Seine Stimme wurde verzerrt, als spräche er durch Wasser mit ihr und sie konnte ihn kaum verstehen. »Wenn sie sogar aus der Hellen Straße fliehen, muss das schon was echt Übles sein. Die Unterstadt gibt’s schon so lange wie Lanukher selbst und die Halunken verteidigen sie mit allem, was sie haben. Is’ quasi wie ihre Lieblingshure, die lassen sie nicht einfach zurück.«
Isra musterte die beschädigten, alten Steingebäude um sie herum. Was stimmte mit diesem Ort nicht? Langsam konnte sie den süßlichen Geschmack besser deuten. Sie wusste jetzt, woran er sie erinnerte: an Verwesung und Tod. Die Schatten hier waren dicker, dichter und schwerer als die an der Oberfläche. Ihnen haftete nicht nur der fade Geschmack an, den Isra in den letzten zwei Tagen so oft auf der Zunge hatte. Gleichzeitig war der Geschmack auch anders als der, dem sie in die Hauptstadt, nach Vallen gefolgt war. Das Gefühl von Staub auf ihrer Zunge wandelte sich zu Asche.
»Warst du das, Isra?«, fragte der Junge ängstlich. Er riss sie aus ihren Beobachtungen heraus, und klang plötzlich wieder normal, statt verzerrt.
»Was denn? Ich hab nichts gemacht.«
»Echt nich? Ist nich lustig, wenn du jetz lügst.«
Isra schaute zu dem Jungen, der panisch hin und her guckte. Sie erkannte keinen Ursprung seiner Angst, und musste ihre Blicke mehrmals mit Mühe von den wabernden Schatten in der Ferne lösen, um wieder zu dem Jungen zu sehen.
»Scheiße, besser, wir verschwinden schnell von hier, kein Geschäft der Welt is’ das hier wert«, presste Kellandar heraus und pfriemelte an der Öllampe herum, bis sie erneut Feuer und Licht spie, griff Isras Hand und hastete den Weg zurück, den sie gekommen waren. Isra musste sich beeilen, um mit ihm Schritt zu halten ohne zu stolpern.
»Komm schon, scheller!«
»Was ist denn los?«
Statt ihr zu antworten, murmelte der Junge vor sich hin. »Ich find bestimmt oben raus, was hier los is… Kein Grund, länger zu bleiben. Geschäfte … werden hier so bald nich passiern. Schnell … schneller, bloß weg hier.« Er wurde noch schneller, bis er schlussendlich rannte. Seine Beine waren deutlich länger als Isras und sie hatte Mühe, nicht zu fallen. Seine Hand hielt ihre in einem Schraubstockgriff. Erneut wurde Isra von den Schatten umringt, die ihr versprachen, sie überall hinzubringen, wohin sie wollte. Sie waren hier so dicht, so aktiv, fast schon inbrünstig, und so … laut. Isra atmete schwer durch den Mund, das Licht des Jungen blendete sie. Isra trieb sich an, die Stimmen waren zu viel, zu drängend und schnatterten wild durcheinander. Sie waren sich nicht einig. Es war das erste Mal, dass die Schatten mehr als eine Stimme hatten. Isra fühlte sich, als würde ihr Kopf jeden Moment zerspringen, wenn sie die Schatten nicht zurückließ, und etwas breitete sich in ihr aus. Doch bevor sie das Gefühl zuordnen konnte, lenkte etwas anderes sie ab.
Ein anderer Geschmack kristallisierte sich auf ihrer Zunge heraus. Unter dem schweren, süßlichen Aroma und der bitteren, äschernen Note fand sich noch eine andere. Sanft herb. So wie die, der sie hierhergefolgt war. So wie damals, bevor Khalikara Kadvan sie gefunden hatte.
Sie drehte den Kopf in die Richtung, aus der sie geflohen waren. Hatte etwas sie nach Lanukher getrieben? Es lag irgendwo in Trumukbur versteckt. Etwas … jemand, der nach denselben Schatten schmeckte wie sie. Nicht wie die Kobaltkrieger oder das, was sie zuvor in Lanukher wahrgenommen hatte und das eine Weile lang in Trumukbur gewesen war. Etwas, das wie sie war.
Etwas Verwandtes.
Sie musste herausfinden, woher in Trumukbur dieser Geschmack stammte und wie sie dorthin kam. Wer sie dort erwartete. Sie spürte das Drängen und Ziehen der Schwaden um sie herum, wusste, dass sie ihnen nicht trauen konnte, weil sie nicht ihre Schatten waren und verstand, dass dieser Ort gefährlicher und verheißungsvoller als jeder andere war.
Der Griff um ihre Hand erinnerte sie daran, dass sie gerade floh. Erinnerte sie an das Gefühl, das sie zuvor nicht zu deuten gewusst hatte – es war Panik. Es war dieselbe Panik, die Kellandars Beine antrieb und ihrer beider Herzen stolpern ließ.
Wer auch immer auf sie wartete, war in Gesellschaft von etwas, das Angst in den Herzen aller Lebewesen weckte. Isra lächelte. Es war noch nie einfach gewesen, aber sie vertraute ihren Sinnen. Die neue Nacht lag nicht nur über den Dächern Lanukhers, sie waberte auch in den Gassen Trumukburs.
Kapitel 2
Valahari sind nicht wie Blätter, Regen oder Schnee.
Es ist nicht schön zu sehen, wie sie fallen.
Stromländisches Sprichwort
Er war der Mörder der Frau, die ihm am meisten bedeutet hatte. Ihre leeren Augen starrten zum Horizont, das rote Haar flatterte im Wind der langen Nacht. Ihr Körper war nirgends zu sehen. Von einem Ritual der Flüstermünder aus dem Gang der natürlichen Dinge herausgerissen, diente ihr nicht verwesender Kopf wie die vieler anderer als Abschreckung der letzten Verfechter der königlichen Blutlinie. Ein neuer König regierte über Lanukher.
Vergessen war der Grund, der Areleas auf die abgetrennten Köpfe auf der Mauer hatte sehen lassen. Zufall – es war reiner Zufall, dass er sie unter all den anderen entdeckt hatte. Wie oft war er in den letzten Tagen an dieser Mauer vorübergegangen und hatte sie nicht gesehen?
Stumm standen zwei Mitglieder der Dunklen Söhne, die Areleas in sein Gefolge aufgenommen hatte, neben ihm und gaben ihm einen Moment der schuldbehafteten Stille. Womöglich, damit er um ihr Seelenheil im Tod beten konnte. Oder um in Frieden trauern zu können. Aber höchstwahrscheinlich warteten sie nur darauf, dass er ihnen Befehle gab, weil sie nichts von seinen Gefühlen für diese Tote wussten. Für sie war Nereida Letonai nur ein Kopf unter dutzenden, die die Mauer der Hauptstadt säumten. Zeichen für ihren Sieg über Elrojana. Ein Grund zum Feiern.
Areleas fühlte gar nichts. Leere hatte in dem Moment Besitz von ihm ergriffen, als er ihr Gesicht erkannt und verstanden hatte, was das bedeutete.
Die Frau, die ihn liebte, war tot. Weil er sie vergiftet hatte.
Sie war nicht geflohen. Vielleicht hatte sie nicht einmal die Gelegenheit dazu bekommen.
Ein Stück seiner Welt zerbrach und eine weitere Mauer, eine weitere Maske schob sich zwischen ihm und der Realität empor, denn er musste ertragen können, was das Schicksal für ihn bereithielt. Nur wenn er die Schuld seiner eigenen Verfehlung erduldete und sich dazu brachte, gar nichts zu spüren, konnte er weitermachen.
»Der König wartet auf Euch, Scharlatan.« Sein Moment der Stille war vorüber.
Er nickte dem Avolkeros zu und setzte sich in Bewegung.
Jeder Schritt fühlte sich so an, als würde er sich von sich selbst entfernen, um Abstand zu der grausamen Realität zu nehmen.
Die einst unsterbliche Ikone dieses Königreiches war tot, ihre düstere Garde von Um Bram Suruk ausgelöscht. Es hatte ein Machtwechsel stattgefunden, der gravierender nicht sein konnte. Denn nicht Thalar Romane, der Mann, den diese strahlende Königin als ihren Sohn und Erben angesehen hatte und den Areleas für ihre Nachfolge vorgesehen hatte, saß auf dem Thron. Stattdessen kämpfte Romane irgendwo im Palast um sein Leben. Er wäre der perfekte neue König gewesen, denn er war Elrojana ähnlich genug, um an ihre Glanzzeiten zu erinnern und das Volk zu beruhigen, und gleichzeitig wäre er nicht sie gewesen.
An seiner statt hatte der Exilprinz Nuallán Brenar die Krone beansprucht. Ein Avolkeros.
Das Königreich befand sich im Umbruch. Niemand wusste, wie lange die lange Nacht andauern würde und sie in ständiges Dunkel hüllte. Wann sie die Sonne wiedersahen – oder ob.
Gerade jetzt wäre ein strahlender König von Nöten gewesen, damit das Volk in diesen dunklen Zeiten Hoffnung schöpfen und durchhalten konnte. Stattdessen hatten sie einen Nachtkönig.
Areleas schritt durch die schlafende Stadt. Fackellicht an jeder Ecke erschuf die Illusion, dass die Nacht nicht ewig bleiben würde. Diluzesabbilder und -lichter standen in jedem Fenster, um den jungen Gott anzubeten, gegen die Finsternis vorzugehen, so wie seine Mutter Kadrabe es einst verkörpert hatte, bevor sie ihre Macht und ihre Stimme verlor.
Niemand befand sich auf den Straßen, wenn er nicht musste, denn die Nacht machte ihnen Angst. Allen außer den Avolkerosi.
»Jetzt, wo Elrojana tot ist und die Krone einem Avolkeros gehören wird, könnte sich alles für uns ändern«, hörte Areleas seine Begleiter leise miteinander sprechen.
Der andere murmelte: »Noch hat er sie nicht auf dem Kopf, und ich glaube es erst, wenn ich das mit eigenen Augen gesehen habe.«
Der Palast wimmelte von ihnen. Das dunkle Volk hatte einen König, und solange König Brenar auf ihrer Seite war, hatte er eine Armee. Eine undisziplinierte Meute ohne Finesse, aber mit der Kraft der Leidenschaft im Herzen und dem Willen, alles zu tun, um sich einen Platz in dieser Welt zu erkämpfen. Gleichzeitig würde Brenars Stand im Volk der Valahari umso schwerer, je mehr er den vallenischen Bürgern ihre dunklen Geschwister aufzwang.
Areleas verlor sich in theoretischen Gedanken über die politische Zwickmühle, um nichts fühlen zu müssen. Solange er den Selbsthass ignorierte, konnte er noch funktionieren. Der neue König brauchte ihn, wenn er Vallens verbliebene Stärke nicht verlieren wollte. Areleas hatte sein Leben lang darauf hingearbeitet, ein königlicher Berater zu sein, und der Sturz Elrojanas war erst der Anfang gewesen. Er stand am Beginn seiner Arbeit, seines Erfolges. Wenn er jetzt zusammenbrach, war niemandem geholfen. Nereida war tot. Egal, was er jetzt tat, sie würde nicht zurückkommen. Also musste er nach vorne sehen, die Gefühle in eine Kiste sperren, und irgendwo in den Tiefen seines dunklen Herzens vergraben, wie einen Piratenschatz, nur ohne Schatzkarte. Nur dieses eine Mal wäre ihm Aberas’ Eigenschaft, sich um niemanden außer sich selbst zu kümmern, gelegen gekommen. Der Schmerz würde verschwinden. Aber es war gefährlich, den Fluch zuzulassen. Sein ganzes Leben kämpfte Areleas nun schon darum, dem übernatürlichen Druck, der seine Existenz mehr der seines Bruders anpassen wollte, zu widerstehen. Er konnte nicht vorhersagen, was passieren würde, falls er jetzt nachgab, wenn auch nur in einem einzigen Aspekt. Die Angst, wahrhaft das Abbild seines Bruders zu werden, war stärker als die Sorge vor der völligen Zerstörung seiner Seele, die ihm wegen des Schmerzes durch Nereidas Tod und seiner Schuld daran drohte. Er durfte einfach gar nichts fühlen.
Wie ein stummer Beobachter sah er dabei zu, wie die Kiste mit seinen Gefühlen in einen Abgrund gesenkt wurde, und im Nichts verschwand.
Brenar befand sich in einem kleinen Besprechungssaal mit seinen Vertrauten, als Areleas ihn fand. Da waren Uleas Viadar, der Kriegsherr der Rebellion. Vinejkia, eine der zwei Kronenbrecher, die seit dem Ende der Schlacht die persönliche Garde des Königs darstellten. Adarian, der Anführer der Sanan aus dem Stromland, und zwei seiner Bestienkrieger. Von der Hohen Sprecherin Medinekain aus Kirill und ihren Silberzungen und Goldfingern war nichts zu sehen. Genauso wenig von den Saltastellari. Diese waren kurz nach Ende der Schlacht ohne ein weiteres Wort abgezogen.
Es waren so wenige, denen der König vertrauen konnte. Wenn das Land nicht in Chaos versinken sollte, musste Areleas alles daransetzen, ihn beim Schmieden neuer Bündnisse und dem vorsichtigen Navigieren der Zusammenführung von Valahari und Avolkerosi zu unterstützen. Das war Areleas’ oberste Pflicht. Nachdem er endlich die Position eines königlichen Beraters in Aussicht hatte, durfte er nicht scheitern.
Der König sah müde aus, wie sie alle. Wahrscheinlich hatte er seit der Schlacht kein Auge zugetan. Er hob den Blick, als er Areleas eintreten sah. Um seinen Hals war noch immer ein Verband geschlungen. Anscheinend waren die Bemühungen der wenigen Blutspinner weiterhin auf die Rettung der Kobaltopfer gerichtet, und des Königs Wunden noch nicht vollständig geheilt worden. Vielleicht war diese Verletzung auch so schlimm gewesen, dass die Heilung sogar mit Blutspinner ein bisschen mehr Zeit brauchte.
»Ah, dann sind wir endlich vollzählig.« Er bat alle um den breiten Tisch, und eine langwierige Besprechung über die angespannte Lage in der Hauptstadt begann. Die Untertanen waren in Aufruhr wegen der Finsternis. Manche gaben Brenar die Schuld daran. Er habe die Ewige Königin, Kadrabes Avatar, das Licht ihres Landes, getötet und damit die Dunkelheit heraufbeschworen.
Zugegebenermaßen hätte der Zeitpunkt der Nachtwerdung nicht schlechter gewählt sein können. Noch immer war nicht bekannt, woher die Dunkelheit gekommen war. Ihre einzige Hoffnung, herauszufinden was auf dem Tempeldach geschehen war, war Thalar Romane, doch ob er je wieder aufwachen würde, blieb unklar.
Die Besprechung zog sich in die Länge. Areleas war dankbar dafür. Sie diskutierten darüber, dass Brenar seine Stellung als König schnellstmöglich festigen musste – eine Krönung war angebracht. Es würde zu einem späteren Zeitpunkt eine große Zeremonie für das ganze Land und die Nachbarreiche geben, doch erst einmal musste eine kleine Krönung genügen. Nur für die Hauptstadt. Damit Nuallán Brenar die Krone tragen konnte und jeder, der ihn erblickte, sah, dass er nun der mächtigste Mann des Reiches war.
Es würde die Avolkerosi an ihn binden und die Valahari in ihrem Aufbäumen zurückhalten.
Es musste Stunden später sein, da wurde die Tür des Saales geöffnet und ein Diener kam herein. Jeder Anwesende wandte den Kopf, Brenar am ruckartigsten. Er war gespannt wie eine Bogensehne, und Areleas fragte sich, wie lange das gutging. War Brenar aus dem Holz geschnitzt, ein König zu sein?
Bin ich gescheitert, als ich nicht vorhersah, dass er statt Romane den Thron beanspruchen würde?
Der Diener verbeugte sich und reichte ihm eine Nachricht.
»Majestät!«, rief Volkan, »Eure Wunde hat sich geöffnet.«
Tatsächlich tränkte sattes Rot den Verband um Brenars Hals, der normalerweise komplett durch seine Maske verdeckt war. Areleas hatte bisher nicht die Gelegenheit gehabt, herauszufinden, wer ihm mit dieser Wunde beinahe das Leben genommen hätte. Für die Sicherheit des Königreichs konnte er nur hoffen, dass der Angreifer unschädlich gemacht worden war.
»Fünfmal verflucht«, raunte der König. »Das ist jetzt das zweite Mal, dass sie aufgeht.« Der König drückte kurz eine Hand gegen den Verband und starrte die blutigen Finger wütend an.
»Diese Izal hätte Euch beinahe getötet«, warf Viadar ein. »Nur Eure schnellen Reflexe haben Euch vor ihrer professionellen Klinge gerettet. Seid nicht so hart zu Eurem eigenen Körper, Majestät. Selbst mit der Hilfe eines Blutspinners wird diese Wunde Euch noch eine Weile an die Ereignisse der Schlacht erinnern.«
Bestimmt spielte sein Verstand ihm einen Streich, seit er Nereidas Kopf gesehen hatte, und er hatte sich verhört. Aber etwas in seinem Inneren rührte sich. Eine Sorge, die zunehmend zu Angst heranwuchs. Das Gefühl, dass etwas sich in seiner Realität verschob, weckte Unbehagen. Er hätte still sein und mit einem leisen Verdacht weitermachen können, aber sein Mund war schneller. Sein Wunsch nach Wissen und Gewissheit war allgegenwärtig, selbst dann, wenn er mehr Schaden als Nutzen hervorrief.
»Die Izal?«
Brenar nickte grimmig dreinblickend. Areleas hatte schnell gelernt, seine Launen trotz der Maske zu erkennen. »Elrojanas Schatten. Sie hatte den Dolch, der meinen Tod besiegeln sollte, schon an meiner Kehle. Wäre sie nicht plötzlich geschwächt zurückgewichen, säße jetzt mein Kopf auf einem Speer.«
Nein, das musste eine Lüge sein. Es durfte nicht wahr sein. Aber wieso sollte Brenar dabei lügen?
Der Rest der Unterhaltung zog bedeutungslos an Areleas vorbei und er erzitterte durch die Kälte seines eigenen Kalküls. Das Gift hatte Nereida genau dann überwältigt, als sie dabei gewesen war, Nuallán Brenar zu töten. Areleas hatte seinem König das Leben gerettet, vielleicht sogar bedingt, dass Elrojana tot war und Romane zumindest die Chance auf ein Überleben hatte. Doch gleichzeitig hatte er Nereidas Schicksal besiegelt. Etwas in Areleas brach.
Ein neuer König regierte über Lanukher.
Der Mörder von Nereida Letonai.
Der Glaskelch in Areleas’ Hand war das Einzige, was sich richtig anfühlte. Vom Balkon seines Zimmers im Palast aus starrte er auf die erleuchtete Nevarettribüne. Die Lampen in seinem Zimmer waren gelöscht und er saß in perfekter Finsternis. Von hier aus sah das blaue Licht des reichsten Stadtviertels noch schöner aus. Selbst jetzt strahlte das Herz der Welt wie ein Saphir und trotzte der Dunkelheit, die es einzunehmen versuchte. Die Schönheit Lanukhers, über die Dichter, Barden und sogar Gelehrte sangen und schrieben, blieb sogar im Angesicht des drohenden Untergangs ungebrochen.
Die Lichtverhältnisse spiegelten sein Innerstes wider: Es war dunkel in Areleas, und er blickte aus seiner eigenen Finsternis heraus in eine Welt, die ihm zu hell und fremd erschien. Als wäre er kein Teil davon.
Areleas hob den Kelch an seine Lippen und trank einen tiefen Schluck Sidrius. Er prickelte seinen Gaumen und die Kehle entlang und stieg Areleas sofort zu Kopf. Areleas, der Zwilling, der niemals trank. Areleas, der ruhige Prinz, der immer im Schatten seines Bruders stand und den die wenigsten beachteten. Der Prinz, den man vergaß. Der sich selbst manchmal vergaß, wenn er nicht mehr unterscheiden konnte, welche Eigenschaften von ihm selbst stammten und welche der Einfluss des Fluches waren. Romanes Wunder im Kindesalter, Areleas zu einem Ebenbild von Aberas zu machen, hatte Areleas’ Leben zu einem Kampf um sein eigenes Ich werden lassen.
Aberas war der Bruder, der dem Sidrius zu oft zusprach. Vielleicht fühlte es sich deswegen so gut an, wenn die goldene Flüssigkeit Areleas’ Kehle hinunter rann, weil er sich in diesem Moment nicht gegen den Fluch sträubte. Er passte sich den Verhaltensweisen seines Bruders an. Dem Maßstab, den Thalar Romane für ihn gesetzt hatte.
Ehe er sich versah, hatte er die ganze Karaffe ausgetrunken. Die Welt wirkte freundlicher, die harten Kanten der Realität waren abgestumpft und konnten Areleas nicht mehr verletzen. Er fühlte sich benommen und losgelöst. Sein Schuldgefühl, an Nereidas Tod maßgeblich beteiligt gewesen zu sein, ruhte weiterhin sicher verwahrt und weit weg in einer Kiste auf dem Meeresgrund seines Verstandes. Doch das Wissen, dass er dem Mörder von Nereida diente, brannte wie Feuer durch seine Adern.
»Taras!«, brüllte er.
Die Balkontür wurde geöffnet, Schritte erklangen auf dem Marmorboden und hielten knapp hinter Areleas an. Taras störte sich nicht an den dunklen Nevaretlampen und brachte auch keine eigene mit. Er bewegte sich ungehindert durch die Dunkelheit. Areleas beneidete ihn und gleichzeitig war er froh, kein Avolkeros zu sein.
»Herr?«, fragte sein Diener, der sich erst seit Elrojanas Tod im Palast aufhalten durfte.
»Bring mir mehr Sidrius.«
Die Karaffe verschwand aus seinem Sichtfeld und die Schritte verklangen. Minuten später saß Areleas mit einem aufgefüllten Kelch da und betrachtete die blaue Stadt, die mühevoll mit Nevaret und Fackeln gegen die allumfassende Dunkelheit ankämpfte, wie eine letzte Bastion des Lichts. Eine Festung, in der der Nachtkönig selbst saß und regierte.
Sidrius strömte durch seine Adern. Er war ein reißender Strom, der Schluck für Schluck den Sand davonspülte, unter dem Areleas erst vor wenigen Stunden seine Kiste begraben hatte. Es schien, als würde Brenar die Kiste bergen und vor Areleas’ Füße werfen. Sie sprang auf und aus ihrem Inneren rollte Nereidas abgetrennter Kopf. Die Haare waren nass vom Sidrius, Sand klebte an ihrer Haut. Plötzlich war der Sand blutrot, und ihre Augen richteten sich auf ihn.
Nuallán Brenar mochte die Klinge geführt haben, aber er hatte nicht Schuld an ihrem Tod. Sie wusste, wer ihr Mörder war.
Ein helles Klirren erschreckte Areleas. Roter Sand und anklagende, tote Augen schwanden wie ein Albtraum.
Der Glaskelch lag zersplittert neben seinem Stuhl. Sidrius hatte den edlen Stoff seiner Hosenbeine bespritzt.
Areleas packte die Karaffe und stand auf. Die Glassplitter schnitten in seine nackten Fußsohlen. Er erduldete den Schmerz, nahm die zwei Schritte bis zum Geländer des Balkons und schleuderte die Karaffe davon.
Er starrte ihr nach, so als könne er sie in ihrem Fall beobachten, obwohl sie längst im blauen Zwielicht der Stadtsilhouette verschwunden war. Irgendwo zwischen dem Palast und der Nevarettribüne fiel sie in die Tiefe. Areleas fühlte sich, als wäre er an ihrer Stelle.
Er fürchtete den Aufprall.
Hastig drehte er sich um, obwohl er das Geräusch nicht hören konnte.
Dichter Efeu wuchs die Wand hinauf, in die Areleas’ Balkon eingefasst war. Er zog sich in die Ecke zurück, an der der Efeu wie ein Vorhang herunterhing, und sank versteckt im dunklen Grün zu Boden. Vielleicht konnte er sich hier vor seiner Schuld und der ganzen Welt verbergen. Der Schmerz in seinen Fußsohlen schaffte es nicht, über den Schmerz in Areleas’ Innerem zu dominieren und wurde zu einem blassen Gefühl im Hintergrund.
Nuallán Brenar hatte Nereida im Kampf getötet. Ermordet. Nicht er, sondern ich habe sie getötet. Ich habe ihr die Freiheit versprochen und sie dann vergiftet. Areleas fuhr sich hilflos durch die Haare und riss an den langen Strähnen. Er hatte nie gewollt, dass sie stirbt. Das Basimor war ein letzter Ausweg, um sie aus dem Spiel zu nehmen, nachdem sie Elrojana bis zum Schluss die Treue gehalten hatte. Es war seine Pflicht als der Scharlatan gewesen, sich um sie zu kümmern, und er hatte gedacht, er hätte noch eine letzte Möglichkeit, sie zu retten. Meine Absichten sind irrelevant. Nur das Ergebnis zählt. Ich habe sie umgebracht.
Seine Brust fühlte sich zu eng an, das Atmen fiel ihm schwer. Etwas wollte aus ihm herausbrechen und die ganze Trauer und Wut mitreißen. Er schluckte es hinunter, aus Angst, es könnte Mauern einreißen, die er zu seinem eigenen Schutz gebaut hatte. Aber er war nicht so stark, wie er sein wollte. Die ganze Last, die sich auf seinen Schultern angesammelt hatte, wurde ihm zu schwer und er fühlte sich unter ihr begraben. Es war, als läge das Schicksal dieses Königreiches auf seinen Schultern und würde ihn langsam zermalmen. Aus den Staubkörnern, die von Areleas übrigblieben, wollte es etwas Neues schaffen.
Nereida war nicht irgendjemand gewesen, kein namensloser Spielstein, sondern eine der wenigen, die Areleas gesehen hatten, und nicht nur den Schatten des strahlend-dunklen Zwillings. Er wusste zum ersten Mal in seinem zugegebenermaßen jungen Leben nicht, ob er diese Schuld tragen konnte.
Was er jedoch wusste, war, wie er dem Schuldgefühl entgehen und wie er diese unerträgliche Qual beenden könnte. Vielleicht war es sogar die einzige Möglichkeit, um nicht vollkommen zu zerbrechen. Es wäre so einfach, dem verlockenden Flüstern nachzugeben, doch wenn er das tat, wusste er nicht, ob er zurückfinden würde. Was es mit ihm machen würde. Ob es ihn dann überhaupt noch gäbe.
Areleas zog die Knie an, um an seinem Selbst festzuhalten. Ein Kampf, den er sein Leben lang bereits führte, doch gerade jetzt spürte er, wie sein eigenes Ich immer weiter in die Ferne rutschte.
»Taras.« Seine Stimme klang brüchig.
Niemand konnte ihm helfen. Niemand wusste überhaupt von diesem stummen, unsichtbaren Kampf, und selbst wenn … wen würde es interessieren? Seine eigene Mutter hatte sich Elrojanas Wahnsinn gefügt und sich eingeredet, dass es nur Äußerlichkeiten waren. Vielleicht hätte es Nereida interessiert. Selbst Romane, der ihn zu diesem Schicksal verdammt hatte, wusste nichts davon. Wie auch? Er war nur ein Kind gewesen, als er Areleas das angetan hatte – und Elrojana hatte es als einen großartigen Beweis seiner Macht als Gewirrspinner angesehen und gefeiert. An Areleas und das, was Romanes Alternation der Realität mit ihm machen würde, hatte sie keine Sekunde lang gedacht.
Der Avolkeros eilte durch die dunklen Gemächer und blieb an der Balkontür stehen. Areleas beobachtete die Silhouette im blauen Zwielicht aus der Dunkelheit seines Verstecks heraus.
Taras entdeckte die Glassplitter und Blutspuren und folgte ihnen.
»Prinz?«
Ich bin nur ein Prinz ohne Thron. Ohne Land. Der Zwilling im Schatten.
»Seid Ihr verletzt?«
»Kümmere dich nicht darum«, sagte Areleas leise. Seine Stimme brach und er stellte fest, dass es ihm egal war. »Hol deine Flöte und spiel mir etwas vor.«
»Aber Herr …« Taras näherte sich dem Efeu, und Panik brach in Areleas aus.
»Tu, was ich befehle, und hol deine Flöte!«
Ruckartig zog sich der Diener zurück. »Sehr wohl.«
Erst als Areleas wieder allein war, klang das rasende Gefühl der Panik langsam ab. Es mochte ihm egal sein, was sein Diener von ihm dachte, aber er wollte unter keinen Umständen sein Versteck verlassen. Der Platz hinter dem Efeu glich der Bettdecke als Kind, wenn seine Mutter mit ihm schimpfte, die Enge gab ihm Sicherheit vor der Welt. Er war sich sicher: Sobald das Zwielicht ihn erneut erreichte, würde er an der Realität zerbrechen.
Taras kehrte zurück. Er stand unsicher auf dem Balkon, die Dunkelheit umschmeichelte seine Umrisse und der Vorhang aus Efeu versteckte Areleas vor ihm.
»Habt Ihr einen bestimmten Wunsch, Prinz? Ich bin bei Weitem kein Musiker für einen Königshof und meine Töne werden nicht an die süßen Klänge heranreichen, die Ihr gewohnt seid. Wenn Ihr möchtet, kann ich nach einer Bardin schicken lassen.«
»Spiel etwas Langsames.«
Taras zögerte kurz, dann erklang der erste, tief bewegende Ton und vibrierte durch Areleas’ Körper. Er wusste nicht mehr, wie das Instrument hieß, aber es stammte aus den Sonnenlanden und war mit keiner vallenischen Flöte zu vergleichen. Ihre Töne waren dunkel, eindringlich und voller Sehnsucht. Areleas konnte die Trauer desjenigen hören, der dieses Lied komponiert hatte. Der Erschaffer dieses Instruments hatte seine eigene Sehnsucht verewigt. Taras mochte sich mit seiner Abstammung an der Grenze zu den Sonnenlanden nicht mit vallenischen Barden vergleichen können, doch die Laute, die er seinem Instrument entlockte, gingen Areleas tief unter die Haut.
Er dachte an die Gewölbe unter dem Palast, die er jahrzehntelang studiert hatte. An die Gesichter in den Wänden. Daran, dass er sich damals gewünscht hatte, Nereidas Arm nie wieder loszulassen. Nereida war wie eine dunkle Blume, die auf einer Klippe wuchs. Unscheinbar für die abgestumpften Augen des Adels, der in Rosengärten lustwandelte. Doch dort, in ihrer Heimat, die so lebensfeindlich war, erstrahlte sie. Areleas kannte sie fast sein ganzes Leben lang als die faszinierende Frau, die seine Königin aus den Frostreichen mitgebracht hatte. Er hatte ihre Narben gesehen. Jede einzelne Wunde, die ihre Seele geformt hatte. Nereida war misstrauisch gewesen, als sie nach Vallen gekommen war, und doch so neugierig und voller Lebenshunger. Er erinnerte sich daran, wie er sie das erste Mal gesehen hatte.
Auf der Stadtmauer stehend, das Gesicht der Sonne zugewandt, die Augen geschlossen. Sie war in Dunkelheit aufgewachsen und hatte das Licht, nach dem sie sich so sehr sehnte, zu spät gefunden. Areleas gab ihr keine Schuld daran, dass all seine Versuche, sie zu retten, gescheitert waren. Sie hatte sich so entwickelt, wie sie musste, um zu überleben. Areleas hätte es sehen müssen. Er hätte einen anderen Weg finden müssen, um sie von Elrojana zu entfremden. Mehr Fingerspitzengefühl, weniger Druck. Mehr Zeit. Aber er hatte zu spät angefangen. Er hatte ihr zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt und sich auf das Gelingen der Rebellion konzentriert. Er hätte mehr tun müssen.
Ich bin nie genug.
Wegen ihm war sie tot, diese robuste Blume mit ihrer düsteren Schönheit. Entgegen aller Vernunft hatte sie – entwurzelt und in einer fremden Umgebung – überlebt, sich einen Platz zwischen all den dornigen, stolzen Rosen erkämpft. Er hatte sie so dringend erblühen sehen wollen, dass er ihr Erde und Wasser genommen hatte.
Sie hat sich ein Leben im Licht erkämpft und ich habe sie zurück in die Finsternis gestoßen.
Wenn Areleas nicht einmal eine einzelne Frau retten konnte, wie sollte er dann ein ganzes Königreich vor dem Zerfall bewahren? Dass Brenar seine Unterstützung brauchte, war sonnenklar. Er mochte als Kriegsführer erzogen worden sein, aber nicht als langfristiger König. Wie lange noch, bis der stolze Krieger unter der andauernden Last, den beginnenden Intrigen und Feinheiten des Adelsspiels in die Knie ging?
Wenn ich mehr wie Aberas wäre, wäre ich dann auch gescheitert?
Das Lied endete und Taras stimmte ein neues an. Der Klang weckte Fernweh und Melancholie. Areleas stellte sich vor, allein auf dem Balkon zu sein, die Musik ein fernes Wehklagen seiner Seele. Jeder Ton eine Erinnerung an die dunkle Blume.
Areleas wollte sie zurück. Er schuldete ihr ein Leben in Freiheit, und er wusste, dass er so lange gefangen sein würde, bis er diese Schuld beglichen hatte. Es war nicht für sie, stellte er mit einem grimmigen Lächeln fest. Er tat es nur für sich selbst, weil er den Gedanken nicht ertrug, gescheitert zu sein. Selbstsucht war anscheinend ein Charakterzug, der in jedem Nachkommen der Ewigen Königin steckte.
Es gab jemanden, der Areleas alles über Selbstsucht lehren konnte. Das immerwährende Ziehen in seinem Inneren drängte ihn, liebkoste ihn. Dieses kosmische Gesetz, das ihm aufgezwungen worden war und ihn jederzeit zu Aberas zog, war überwältigend präsent. Es war so einfach, ihm nachzugeben, und zuzulassen, dass er in den Fluch eintauchte und sein Ich sich dem von Aberas anglich.
Sein Versteck hinter dem Efeu schien plötzlich nicht mehr nötig. Die Welt durfte ihn sehen, er brauchte keinen Schutz mehr vor ihr, und er konnte der Finsternis gegenübertreten, die seine Heimat ergriffen hatte, ebenso wie dem Licht.
War es Aberas’ Schuld, dass die Dunkelheit sich beruhigend anfühlte? Sein Bruder diente dem Unvergänglichen, dessen Geburtsstunde mit dem Beginn der Nachtwerdung ausgelöst worden war. Ein Nachtbringer hatte seine Hände auf die Schultern seines Bruders gelegt und somit indirekt auf Areleas’.
Elentis, Gott der Finsternis, hatte ihn in seinen Abgrund gezerrt. Es mochte nur für kurze Zeit gewesen sein, bis der Gott seine Macht in sich aufgesogen und mitgenommen hatte, wohin auch immer er nach seiner Geburtsstunde gegangen war, doch es hatte ausgereicht, um Areleas etwas zu nehmen: die Angst vor der Dunkelheit. Er fühlte sich ihr und ihren Schrecken vertraut.
Taumelnd kam er auf die Füße. Taras unterbrach sein Lied und wollte ihn stützen, doch Areleas schlug seine Hand weg. Die Selbstzweifel und Sorgen nahmen ab, bis sie nur noch am Rande seiner Wahrnehmung whisperten, und er wusste genau, was zu tun war. Er stolperte in seine Gemächer. Ein Flüstern und die Nevaretlampen hüllten die Räume in kaltes Licht.
Die Aufzeichnungen auf seinem Tisch waren geordnet und sortiert. Mit einem Handgriff hatte er, wonach er suchte. Eine Notiz der Königin, die Areleas gesichert hatte, bevor Brenar allen anderen den Zugang zu Elrojanas Gemächern untersagt hatte. Sie war wirr wie Elrojanas Gedanken seit Talahars Tod vor über vierzig Jahren. Gilvendalisch, Vallenisch und andere Sprachen, die vielleicht nur für Elrojana einen Sinn ergaben, waren wild durcheinandergekritzelt. Aber ein Wort wiederholte sich wieder und wieder, neben dem Satz »Leben und Tod begegnen sich dort. Wo ist es? Wo?«
Laena.
Es war wenig, aber es war eine Spur, und es war Areleas’ einziger Weg zum Sieg.
Taras war ihm gefolgt.
»Finde Nil und richte ihm einen Befehl von mir aus«, forderte Areleas. »Er soll den Körper von Nereida Letonai finden und ihren Kopf von der Mauer stehlen. Bereitet beides auf eine Reise vor.«
Weiter geht es bald in: Nachtkönig Band 3: Staubfeuer
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Band 3 geht direkt spannend weiter, ich hab mich gerne von dem einnehmenden und bildlichen Schreibstil in diese faszinierende Welt ziehen lassen. Die düstere und geheimnisvolle Atmosphäre, die allgegenwärtig war hat mich begeistert. Aber auch die Charaktere, die in verschiedenen Abstufungen der Grautöne erschienen, gefielen mir gut und konnten mich überzeugen.